Neulich saß ich in der U-Bahn, erst mal nichts besonders.
Leider war mir kurz vor dem Einstieg mein Handy mit dem Display voran aus der Tasche und auf den harten Betonboden der U-Bahn gefallen.
Es sind diese Momente, die scheinbar in Zeitlupe ablaufen, man selbst steht nur da und beobachtet, unfähig zu reagieren.
Während es fällt, sehe ich unser gemeinsames Leben an mir vorüberziehen. All die schönen Momente: Wir in London, Dublin und am Strand im Hintergrund leichte Gitarrentöne… ich glaube, nein ich bin mir sicher, es ist Yesterday von den Beatles.
Wumps!
Da lag es, auf dem Bahnsteig.
Ich hob es vorsichtig auf. Betrachtete die Scherben meiner Existenz. Das Display gesprungen. Der Bildschirm schwarz.
Damit begann mein ganz persönliches soziales Armageddon!
Wie konnte dieser eine unaufmerksame Moment mein Leben so drastisch verändern?! Und warum konnte man diese kleinen zerbrechlichen Dinge nicht einfach panzern, damit sie, auch bei so ungeschickten Rindviechern wie mir, mehr als 6 Monate überlebten?! In solchen Momenten bin ich immer froh, keine Mutter zu sein… Bei mir haben damals schon immer die Tamagotchis nach spätestens 2 Stunden den Freitod gewählt. Man, wie ich froh bin, keine Mutter zu sein…
Ich schaffte es gerade noch in die Bahn zu stolpern und mich benommen auf einen Sitz fallen zu lassen.
Und dann saß ich dort, drückte panisch alle Knöpfe. Finger zu Button Reanimation. Doch das Display blieb schwarz und mir blieb keine andere Wahl als, anstatt meinen Facebook Status zu aktualisieren, dämliche Posts zu lesen oder ein paar neue Bilder bei Instagram hochzuladen, mich mit meiner Umwelt auseinander zu setzen. Zum Heulen!
Ich war aus der Matrix ausgestiegen.
Gewaltsam aus meiner digitalen Welt gerissen und in der Kommunikationswüste ausgesetzt worden.
Wie einen Hund den man im Winter, nachts bei Schneeregen und Gewitter vor die Tür getreten hatte…
Links und rechts von mir starrten die Leute gebannt auf ihre Bildschirme…
Mich überkam ein Anflug von Eifersucht.
Ob mir wohl gerade jemand bei Whatsapp schrieb? Ich seufzte und niemand nahm es wahr.
Nur 5 Stationen! Da ist der nächste Handydoktor, da bekomme ich ein Ersatzgerät. Meine Freunde werden sicher mit dem Essen auf mich warten. Die Frau links von mir schrieb gerade:
„Komme gleich an.“
Der Mann, den sie unter „Geilo Gerrit“ gespeichert hatte, antwortete:
„Und wenn du kommst, dann kommst du auch!“
Danach folgte ein Foto von seinem…
Peinlich berührt sah ich auf den Bildschirm zu meiner rechten. Noch 4 Stationen.
Der Mann wischte gerade bei Tinder rum.
Ich fragte mich, ob er mich wohl schon mal geswiped hatte… sah verstohlen in sein Gesicht und dachte… hoffentlich nicht!
Nur noch 3 Stationen. Die Türen öffneten sich und ein Obdachloser schlurfte in die Bahn, um seine Zeitung zu verkaufen, da ich die einzige ohne Bildschirm vor der Nase war, blickt er mich direkt enthusiastisch an und begann mit seinem einstudierten Monolog.
Ich tat also, was jeder in meiner Situation getan hätte…
Ich krame meine Kopfhörer aus der Tasche, stecke sie mir in die Ohren und starrte auf den Boden.
Noch 2 Stationen! Ich kniff die Augen zusammen und versuchte mich an die Zeit vor dem Internet zu erinnern.
Da habe ich mein Handy in regelmäßigen Abständen verloren, um es dann 3 Monate später mit noch halb vollem Akku in irgendeinem Wäschehaufen wiederzufinden. Was habe ich damals überhaupt auf dem Weg zur Schule oder zur Arbeit getan? Wie ein Zombie vor mich hingestarrt?
Noch eine Station…
Mir gegenüber saß eine Frau, auf dem Schoß ihre kleine Tochter. Beide trugen den gleichen Tierprint-Pulli mit passenden Leggins… naja, dachte ich, kann ich den Besuch im Berliner Zoo jetzt auch von meiner To-Do-Liste streichen. Am liebsten hätte ich ein Foto für den Rest der Welt gemacht, aber als ich aus Reflex in meine Jackentasche griff, fiel es mir wieder ein… Stattdessen war ich auf Menschensafari und beobachtete das Leopardenbaby mit einem aufgeschlagenen Bilderbuch auf seinem Schoß. Die Kleine versuchte verzweifelt mit ihren Fingern auf dem Buch herum zu wischen, die Bilder durch Tippen zum Leben zu erwecken und zu vergrößern.
Wie die Welt wohl in 20 Jahren aussehen mag?
Werden Bücher in 20 Jahren überhaupt noch gedruckt? Und wie würde wohl die Generation nach mir reagieren, geriete sie in so einen Ausnahmezustand wie ich?
Das Mädchen schrie und ruderte mit den Armen, riss die Seiten aus dem Buch und warf es auf den Boden…
Kinder sind eben auch nur Menschen…
Endlich!
Die Türen gingen auf. Ich sprang auf und rannte los.
Drängelte mich an den beiden Backpackern, die vor der Tür standen vorbei. Raus auf den Bahnsteig. Kämpfte mich durch eine Waldorfschulklasse, die den Wagon stürmte, ohne zu warten bis die Leute ausgestiegen waren. Wohl eine Folge antiautoritärer Erziehung. Die Rolltreppe. Ich schubste die Touris beiseite, die grundsätzlich links standen. Der Ausgang. Plötzlich, ein Kinderwagen! Ich wich in letzter Sekunde aus. Die Ampel schaltete gerade erst auf Rot. Ich stürmte über die Straße. Radfahrer von links, abbiegende Autos von rechts. Die Ladentür fest im Blick. Mein Asthma meldete sich. Ich sprintete los. 40 Meter, 30 Meter, 20 Meter. Oh nein! Ein sich bückender Flaschensammler. Einen Bocksprung später hatte ich es geschafft. Der Phonedoktor wollte gerade zu machen, da schob ich meinen Fuß in die Tür.
Es war wohl die Verzweiflung in meinen Augen, die sein Herz erweichte. Oder die Angst, wer „The Revenant“ gesehen hat, wird sich in etwa meinen Gesichtsausdruck vorstellen können.
Er öffnete und ich ließ mich in den Laden fallen. Zog mich mit letzter Kraft am Tresen hoch und röchelte noch: Internet!
Kurz danach saß ich mit meinen Freunden am Tisch und las die 248 verpassten Whatsappnachrichten.
Alles war wieder so, wie es sein sollte. Jeder hatte sein kleines digitales Fenster in der Hand und war gefangen in der Bedeutungslosigkeit des Augenblicks. Außer dem Tippen unserer Finger gab es keine Geräusche.
Ich lächelte und niemand nahm es wahr.