Von Landeiern und Stadtküken

​“Philippe schau nur, wir fahren U-Bahn! Mach doch mal ein Foto!“, rief die Frau, die neben mir saß ihrem Ehemann auf der gegenüberliegenden Bank zu. Allerdings in einer Lautstärke, dass alle im Wagon Anwesenden kurz aufblickten, wer da so gut gelaunt, die Bahn beschallte. Peinlich berührt, wandte ich mich von dem etwas älteren Ehepaar ab und geriet dabei in Augenkontakt mit dem wahnsinnig hübschen Kerl, mit dunkelblauen Augen und kurzen braunen Haaren, der mir gegenüber saß.

Er grinste verschmitzt und mein Herz setzte kurz aus. Es war die Art von Mann, in die man sich auf den ersten Blick verliebte. Ich stellte mir vor, wie wir gemeinsam kochten, am Strand bei Sonnenuntergang spazieren gingen, wie er am Altar stand und ich in einem atemberaubend schönen Brautkleid auf ihn zu marschierte und gerade als er „Ja, ich will.“ sagen wollte, grummelte der Mann der Frau:

„Warum haben die überhaupt Fenster hier drin? Man kann doch eh nicht rausgucken!“ Woraufhin die Frau neben mir begeistert: „Berlin ist schon toll!“ seufzte.

Der hübsche Kerl warf ihnen einen kritischen Blick zu und rollte dann betont genervt mit den Augen. Ich tat es ihm gleich und wir grinsten uns an. Gerade als er etwas sagen wollte, berührte mich die Hand der Frau an der Schulter.

„Komm Schatz, wir machen ein Bild zusammen! Junger Mann währen sie so nett?!“

„Ne, Mama wir müssen gleich raus“ hörte ich mich selbst sagen. Aber zu spät, sie hatte dem Fast-Vater meiner Kinder schon die Kamera in die Hand gedrückt und schmiegte sich an mich.

Bevor ich mir ein gestelltes Lächeln abringen konnte, blitze es bereits. Ich fühlte mich wie ein Reh im Scheinwerferlicht. FLUCHT! Ich sprang auf, stolpere zur Tür und drückte panisch auf dem Öffner rum, während die Bahn noch einfuhr. Sehr langsam einfuhr…  Meine Eltern rafften sich in aller Ruhe auf und stellten sich dann an die Tür zu mir.

„Ach Schatz, der junge Mann war aber hübsch, wäre der nicht was für dich gewesen?“

„Mensch Mama, wir haben doch über deine Drinnen- und Draußen- Stimme geredet.“

„Oh, meinst du, er hat das gehört?“

„Wenn er nicht Stock taub ist.“

Endlich gingen die Türen auf und ich rettete mich auf den Bahnsteig.

„Willst du dir nicht langsam mal einen Freund suchen?“, fragte mein Vater den gesamten U-Bahnhof.

„Bin dabei!“, knirschte ich.

„Ach guck mal, hier gibt es sogar einen Kiosk unter der Erde!!!“

„Die Croissants sehen aber nicht so frisch aus!“

„Und dann auch noch so günstig! Also wenn ich zum Bäcker fahre…“

Und damit war das Thema wieder vom Tisch.

Immer wenn meine Eltern mich besuchten, war es so, als wären sie noch nie zuvor in irgendeiner Stadt gewesen.

Der reinste Amisch-Ausflug… nur, dass die beiden ein Auto statt einer Kutsche besaßen.

Richtige Landeier eben. Nichts gegen Landeier, ich bin ja selber mal eines gewesen, aber irgendwann habe ich wohl ein Schamgefühl entwickelt.

Meine Eltern leben in einem winzig kleinen Dorf und wenn ich winzig sage, meine ich damit nicht, 5.000 Einwohner… Wir reden hier von 35 Häusern! Ich weiß nicht, ob man das überhaupt schon Dorf nennen kann.

Es ist mehr eine zufällige Anordnung von einzelnen Häusern. Der nächste Supermarkt ist von dort 15 Minuten entfernt. Ich spreche hier von Autominuten! 100 Km/h auf der Landstraße Autominuten! Ringsherum nur Felder und Wald. Man kann es sich wie in einem Splatter- Horrofilm vorstellen, nur dass dort einfach nie etwas passierte, außer das vielleicht der eine seine Cousine heiratete, das halbe Dorf bestand hier nämlich aus nur einer Familie. Meine Eltern gehörten zu meinem Glück zum kleinen Teil der zugezogenen, sonst wäre ich jetzt wohl schon mit meinem Cousin verheiratet und hätte Kinder. Kinder, denen man das eine Brillenglas zuklebte, davon gab es dort nämlich recht viele. Weiß auch nicht warum…

Als ich 16 wurde, bin ich von da nach Kiel in die „Stadt“ geflohen. Ab 16 macht man auf dem Dorf auch nichts anderes als in der Stadt… kiffen, saufen und schlechte Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht sammeln… nur eben mit dem Unterschied, dass man es mit fremden tut und nicht mit dem eigenen Cousin…

Mittlerweile liegen meine Eltern mir aber ständig in den Ohren, mit der Biologischen Uhr und ob ich nicht wieder aufs Land will, man könne ja Kinder nicht in der Stadt aufziehen.

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, dass meine Eltern in der Nachkriegszeit aufgewachsen sind… aber sie denken in einer Stadt als Kind Leben zu müssen, dass wäre grausam.

Wenn ich heute meine Eltern besuche, frage ich mich immer, womit ich mir in den ersten 16 Jahren meines Lebens nur die Zeit vertrieben habe. Es gab damals ja noch gar kein Internet, naja heute auch nicht so richtig und wenn ich mit meinem Handy telefonieren will, muss ich auf den Dachboden klettern.

Worauf ich eigentlich hinaus wollte, ist die Tatsache, dass man hier in der Stadt ein ausgeprägtes Schamgefühl hat.

Eins das man entwickelt, wenn man mit anderen auf engstem Raum lebte. Wie Hühner auf einer Stange.

Und jetzt bin ich wohl ein richtiges Stadtküken geworden.

Meine Eltern hingegen zogen die Touri-Nummer rigoros durch.

Ein Foto vom Kiosk, dem U-Bahneingang und dem indischen Restaurant selbst später, ließen wir uns an unserem Tisch nieder.

Als ich sah, wer an unseren Tisch trat, um uns zu bedienen, wäre ich am liebsten gleich weggelaufen.

Es war der Quasi- Vater meiner Kinder.

Meine Beine waren bereit weg zu laufen, allerdings saß mein Vater am Ende der Bank und versperrte mir den Weg. Flucht war also nicht möglich, Für den Bruchteil einer Sekunde spielte ich jedoch mit dem Gedanken, mich unter dem Tisch zu verstecken, um mir von da, mit bloßen Händen einen Tunnel in die Freiheit zu graben!

„Ach, Sie saßen doch gerade mit uns in der Bahn!“, begann mein Vater. „Ich hoffe, sie haben sich die Hände gewaschen!“

Ich riss meinem „So- gut- wie- Ehemann“ die Karten aus der Hand und hielt sie meinem Vater unter die Nase, die Nummer 13 klingt doch gut, versuchte ich ihn von weiteren Peinlichkeiten abzulenken und hoffte es würde eine Nummer 13 auf der Karte geben.

„Salat?! Seit wann isst du denn Salat?! Naja ein bisschen abnehmen musst du schon. Bist ganz schön…“

„Einen Mojito bitte!“ Ich hätte am liebsten gleich 2 bestellt.

„Schatz, du trinkst doch hoffentlich nicht so oft Alkohol oder?“, begann meine Mutter.

Nicht so oft, wie mir lieb wäre, dachte ich, Sagte stattdessen aber: „Nein Mama, natürlich nicht!“

Keine 10 Minuten später stand mein Nahezu- Freund wieder am Tisch, brachte unser Essen und mir meinen zweiten Cocktail. Er ginste in sich hinein, als mein Vater sich über die Portionen beschwerte und meine Mutter begeistert zu fotografieren begann, erst das Essen, dann uns, dann uns mit dem Essen und dann noch mal jeden Teller einzeln aus jedem erdenklichem Winkel.

„Hast du denn nun endlich die Beförderung bekommen?“ brummte mein Vater.

„Naja, nein noch nicht. Aber bald.“

„Hm“

Mein Vater war kein Mensch vieler Worte. Und ihn stolz zu machen, habe ich damals begraben, als ich mit einer Bioklausur, die ich als Klassenbeste abgeschlossen hatte, zu ihm kam.

Er guckte kurz auf das Blatt, zeigte auf die einzige Aufgabe, bei der ein halber Punkt fehlte und sah mich enttäuscht an.

„Das hättest du aber wissen können…“

Während des Essens, also während ich die paar Blätter Salat herunterwürgte und sie anschließend mit meinem dritten Glas Mojito herunterspülte, beobachtete ich eine Frau, die mit ihrer kleinen Tochter am Nachbartisch saß. Das Mädchen zeigte auf einen der Kellner und fragte lautstark: „Mama, warum hat der Mann da so dunkle Haut, stand der zulange am Ofen?!“

Die Frau lief hochrot an und versuchte ihrer Tochter im Flüsterton zu erklären, dass der Mann Inder war.

Eltern haben es wohl auch nicht immer leicht mit uns Kindern.

Nach dem Essen brauchte ich erst mal eine Zigarette.

Scheiß Salat,

Jetzt war ich noch hungriger aus vorher.

Ich lehnte mich draußen an die Wand vor dem Restaurant und nahm einen tiefen Zug.

Mein Fast- Date stand plötzlich lässig rauchend neben mir.

„Na, genervt von deinen Alten?“

„Genervt ist so ein schwaches Wort…“

„Die beiden sind echt ätzend. Wie hältst du das nur aus? Ich meine, unglaublich, dass du so normal bist.“ 

Ich weiß nicht genau warum, ich schiebe es jetzt einfach mal auf den Hunger… aber ich schnippste meinem Beinahe- Flirt die Zigarette vor die Füße und ging ohne ein weiteres Wort wieder rein.

„Ja, meine Eltern sind vielleicht seltsam, haben kein Feingefühl für Situationen, sprechen grundsätzlich immer zu laut und bringen mich andauernd in peinliche Situationen… Aber ich bin die einzige, die so über sie herziehen darf!“

Drinnen umarmte ich meine Mutter innig.

„Komm Mama, wir machen jetzt noch ein Bild von dem Späti da drüben, da kann man nämlich sogar noch nachts einkaufen!“

„Ach, du willst mich doch auf den Arm nehmen!“

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